SORRY REALISMUS: LIKES SIND KEINE LIEBE, Angelika Höger
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SORRY REALISMUS: LIKES SIND KEINE LIEBE

mit Arbeiten von Angelika Höger und Nikolas Müller

/tmp Magazin SORRY REALISMUS: LIKES SIND KEINE LIEBE (PDF, 20.7MB)
Fotos, Texte und Layout: Jessica Koppe

Die Arbeiten von Angelika Höger und Nikolas Müller verlocken. Sie verführen uns mit ihrer intensiven Materialästhetik, zuerst neugierig zu staunen und dann tief einzutauchen: Alltagsgegenstände, Spielzeuge, Sammelalben-Sticker, Glitzer, glänzendes Plastik, Neon – scheinbar unschuldiges Material ist hier Grundlage von existenziellen Untersuchungen von Wahrnehmung und Realität, von Identität und Zerbrechlichkeit.

Die temporären Installationen von Angelika Höger wirken dabei oftmals beinahe kindlich verspielt und reflektieren gleichzeitig durch ihre unschuldige Materialästhetik hindurch philosophische Gedanken über ein stimmiges Miteinander, in dem, idealerweise, alle Akteur:innen ihren Platz finden dürfen. Dem gegenüber, hinter quasi-pubertären Erlöserfantasien in bunten Farben und popkulturellen Anspielungen, eröffnen die Arbeiten von Nikolas Müller eine weitere Ebene, die von persönlicher Erkrankung und der fortwährenden Auflösung scheinbar gesicherter Zustände erzählt.

Beide Künstler:innen bewegen sich in der surrealistischen Tradition des Samplings als künstlerischer Strategie. Dabei verdichten sich jeweils zuerst scheinbar widersprüchliche Gegenstände und Inhalte zu eigenwilligen, intensiven Kompositionen. Sie bieten uns in ihren Arbeiten eine sinnliche Poesie und Tiefe in einer absurden Welt, in der in Wirklichkeit alles fragil und unbeständig ist. Material und Bildfragmente dürfen und sollen ein Eigenleben entwickeln und so Erzählungen schaffen, die mehr Fragen stellen als Antworten bereithalten, die Erkenntnis stellt sich übers Zuhören ein.

Die Schwerpunkte der künstlerischen Arbeit von Angelika Höger sind Experimente, die sich selbstständig machen, geräuschvolle kinetische Objekte, haptische Zeichnungen und Filme von oft spielerisch anmutenden Versuchsaufbauten. Diese formieren sich ortsbezogen immer wieder neu.

Sie nutzt in ihren Performances, Installationen und Zeichnungen Objekte und Materialien, die bereits in irgendeiner Form mit ihrer Umwelt reagiert und so eine Art Patina erhielten, oder solche, die uns aus dem Alltag sehr vertraut sind wie Küchenutensilien, Elektrogeräte oder Spielzeuge.

Beobachten, Lauschen, synästhetische Präsenz bilden in ihren Arbeiten die Grundlage für verblüffend poetische Erzählungen grafischer Anordnungen von einfachsten Objekten als Häufungen oder Verdichtungen, bis ein Klang entsteht.

Meist treten diese eigenwilligen Wucherungen, diese Rhizome und Metastasen, über ihre Materialbeschaffenheit, Farbe oder Form der verwendeten Gegenstände, also über formale Verbindungen, in einen Dialog mit dem sie umgebenen Raum. Die Installationen muten oft kreatürlich an, wie sie sich an Orten einnisten und dort ihren, oft absurden, Geschäften nachgehen.

Die Arbeiten als temporäre Installationen sprechen wie die in ihnen verwendeten Gegenstände von Zeit und Vergänglichkeit, sie sind flüchtig wie die Klänge, die sie erzeugen. Vielleicht werden einzelne Elemente in einem neuen Projekt ein- oder umgearbeitet – der verspielte, materialfokussierte Pragmatismus in der Herangehensweise von Angelika Höger findet immer neue Verwendungen für die einzelnen Objekte.

Alles ist nackt, nichts wird kaschiert oder aufgehübscht. Ihre Ensembles sind präzise im Dialog mit dem Ort komponiert und ermöglichen unerwartete Begegnungen in einem Nebeneinander, das vielleicht nicht immer harmonisch klingt, in dem aber alle ihren Platz finden und in dem laute wie leise Stimmen zu einem lustvollen Gesamteindruck beitragen.

INTRO

Ich definiere es also ein für allemal: SURREALISMUS, Substantiv, m., reiner, psychischer Automatismus, durch welchen man, sei es mündlich, sei es schriftlich, sei es auf jede andere Weise, den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und außerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen. – André Breton: Erstes Manifest des Surrealismus (1924)

Unter dem Eindruck der psychoanalytischen Studien Siegmund Freuds formulierten die surrealistischen Künstler:innen um André Breton in den 1920erJahren als Erste programmatisch, wie man durch Bilder als Sprache der Seele das Bewusste und das Rationale überschreiten und auf diese Weise neue Formen des gesellschaftlichen Miteinanders entwickeln könnten.

In einer gängigen Herangehensweise lösten sie vertraute Gegenstände aus ihrem gewohnten Zusammenhang, kombinierten sie neu, oft zufällig, und ermöglichten so bisher noch ungesehene Perspektiven auf die Welt, das Leben und seine Bedingungen.

Die Künstler:innen des Surrealismus wollten erstarrte Normen und Gewohnheiten erweitern und eine neue Gesellschaft entwerfen, gegen wirtschaftlichen und kriegerischen Pragmatismus und für eine Gleichberechtigung der Geschlechter. Es ging um nicht weniger als eine gesellschaftliche Revolution mit den Mitteln der Kunst. Surrealismus ist dabei viel weniger ein Genre oder ein Stil als eine Lebens- oder Geisteshaltung. »Im Namen der Kindheit und der Träume wollen sie der Poesie einen revolutionären Charakter verleihen«, wie Manfred Bauschulte es zusammenfasst.

Zu Bretons grundsätzlichen Gedanken, die auch seine Anhänger teilten, gehörte die Auffassung, dass es keine objektiv gegebene, äußere Wirklichkeit gibt. Ausgehend von der Vorstellung der Realität als vor allem einer Ansammlung oder Konfiguration von Fragmenten, von sinnlichen Eindrücken, Sensationen verdichtet sie sich fortlaufend zu einem allenfalls temporären statt kohärenten Gesamtbild. Das kohärente Bild, das Image als piktorale Totalität, Identifikation, Identität, treten zurück hinter ein poetisches, relationales Dasein im Moment.

Bewusst herbei geführte Kategorienfehler ermöglichen dabei Öffnungen, Risse im Vertrauten, und öffnen die Wahrnehmung für eine größere Bandbreite und feinere Nuancen des menschlichen Daseins, als wir im Alltag oft wahrnehmen. Dieses Potential ist inkonsistent, oft unaussprechlich, und kaum in Worten fassbar. Es gilt also entgegen Vereinfachungen und Pauschalisierungen Bilder zu finden, die uns wieder dorthin führen, die gesamte Bandbreite des menschlichen Daseins in all seinen Abwegigkeiten und Absurditäten wahrzunehmen.

Der Motor der Avantgarde ist für Breton die subversive Kraft der Liebe. Es ist ein emanzipatorischer Akt, Menschen ihre Wut über Verletzung persönlicher Grenzen, Trauer um den Verlust geliebter Dinge oder Menschen und Angst vor möglichen Bedrohungen zuzugestehen, ihnen genauso Raum zu geben wie Freude, Rausch und Gelassenheit. All diese menschlichen Regungen als etwas zu behandeln, das uns miteinander verbindet anstatt uns zu trennen und über ihre Repressionen Kontrolle über einzelne Gruppen und ihre Angehörigen auszuüben, aufeinander einzugehen statt einander oberflächlich zu- oder abzuschreiben.

Es ist legitim, wenn wir uns gelegentlich von ansprechenden, poppigen Dingen und interessanten Oberflächen verführen lassen und dabei einfach die satte Ästhetik genießen, very instagrammable, tag the artist.

In dem Moment aber, in dem wir uns wirklich auf ein Gegenüber einlassen, Kontakt herstellen, Intimität und Verletzlichkeit zulassen und in die tieferen Schichten jenseits der schillernden, verführerischen Oberfläche dieser Erzählungen eintauchen, wird das menschliche Dasein für sich und in seinen Beziehungen, seinem Verwobensein und in seinen Verflechtungen und Schichten plötzlich in seiner gesamten Komplexität sichtbar, erfahrbar, und man spürt einmal mehr: Likes sind keine Liebe.

Read On
André Breton: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986
John Cage: Silence, übers. v. Ernst Jandl, Frankfurt/M. 2017
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992
Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Eine kommentierte Auswahl, hrsg. v. Jens Heise, Ditzingen 2019
Peter Osborne: Chrisis as Form, London/New York 2022

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Ausstellung vom 1.3. - 21.4. 2024
Sorry Realismus: Likes sind keine Liebe
Arbeiten von Angelika Höger und Nikolas Müller

Weitere Informationen unter:
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